Die Mordhill

Auszug aus dem Buch "Die Mordhill - Tagebuch aus der Verschleppung"

 von Andreas Türk

"Wenn ich (...) die Gesellschaft von Menschen suchte, dann war es mit Vorliebe die des achtzigjährigen Großvaters, der in seinem kleinen Stübchen meist hinter den schon vergilbten Büchern saß und las. Er hatte immer eine Überraschung für mich bereit. Wenn er gar den selbstgebogenen Stab aus der Ecke hervorholte, den breiten schwarzen Hut aufsetzte und mich zu einem Spaziergang einlud, dann war meine Freude übergroß.

An so einen Gang erinnere ich mich  noch heute. Es war im Frühjahr gewesen. Die Sonne schien auf das neuerwachte Feld, durch das wir schweigend gingen. Dabei war uns so feierlich zumute, als ginge ein leises Läuten durch die Natur. Am Wegrand stand hie und da eine Gruppe Salweiden, deren goldgelbe Blütenkätzchen einen süßbetäubenden Duft verbreiteten. Dann hatte uns der Wald aufgenommen, an dessen Rand Haselsträucher beim leisesten Windhauch den letzten Rest von Blütenstaub aus ihren Quirlen auf Wanderschaft schickten. Darunter blühten die ersten gelben Primeln, der violette Hundszahn und die zarten Sternhyazinthen, deren Blüten mir wie kleine, wehmutsvolle Augen verwunschner Märchenkinder vorkamen. In den Buchen riefen die Finken und die Drossel sang ein so bewegendes Frühlingslied, dass davon die Knospen zu schwellen schienen und sich die Herzen der beiden Wanderer weiteten. Kein Wunder, dass keiner ein Wort sprach, keiner eine Frage stellte. Beide horchten stumm dem ewigen Lied der erwachenden Natur, der Alte mit Wehmut des eigenen Lebensfrühlings gedenkend, der Junge traumversonnen, gefangen von Sonne, Duft und Vogelsang.

So kamen wir an der Sonnenhalde vorbei in den Wiesengrund, dessen Namen,   Schayndorf, an eine Gemeinde erinnert, die in den Kriegswirren vergangener Zeiten von wilden Horden vernichtet wurde. Nahe des Baches befindet sich auch heute noch eine Quelle, über die ein ausgehöhlter Baumstumpf gestülpt war, damit das Wasser vor Verunreinigungen bewahrt sei. Auf diesen Brunnenrand setzte sich mein Großvater, während ich mich darüber beugte, und dem Sprudeln des Wassers zusah.

'Dies ist der Silberbrunnen', sagte er. Ich horchte auf und unterdrückte mit Mühe die Frage nach dem Warum dieser Bezeichnung. Ich wartete ab, denn ich wusste, dass er bald weitererzählen würde, doch musste er sich etwas erholen. (...) 

'Es lebten einst zwei Brüder. Wie sie hießen, konnte mir niemand mehr sagen, so viel Zeit ist seit jenen Tagen vergangen. An einem so schönen Frühlingstag. wie der heutige ist, kamen die beiden hierher aufs Feld heraus, um zu sehen, ob sie noch nicht pflügen und säen könnten. Bei der Gelegenheit wollten sie auch diesen Brunnen reinigen, damit er ihnen im Sommer bei des Tages Hitze klares, kühlendes Wasser spende. Als sie nun so gruben, stieß  der ältere von ihnen auf einen großen irdenen Topf.  Sie hoben ihn heraus, öffneten ihn und fanden einen wertvollen Silberschatz darin. Wahrscheinlich hatte ihn ein Bewohner von Schayndorf in schweren Kriegszeiten hier versenkt, fiel dann aber den wilden Feinden zum Opfer, wodurch der Schatz in Vergessenheit geriet. Nun funkelte er in der hellen Frühjahrssonne und die Brüder beschlossen in ihrer Freude den Brunnen hinfort Silberbrunnen zu nennen. Mit den Silbermünzen wollten sie aber ein sorgenloses Leben führen. Als sie sich aber darüber berieten, wie dies Leben aussehen sollte, setzten sofort größere Sorgen ein, als sie bis dahin bei ihrer Armut gehabt hatten. Der eine machte einen Vorschlag, der andere einen anderen. Erst taten sie das friedlich, dann rechthaberisch  und schließlich brach ein Streit zwischen ihnen aus, sie stellten den Topf  im Weg hinter dem Hohen Berg ab, in der Absicht seinen Inhalt zu teilen. Da beanspruchte der ältere einen größeren Anteil, weil er beim Graben daraufgestoßen war, was der jüngere ihm nicht zubilligen wollte. Da erboste der andere so sehr, dass er mit dem Spaten auf ihn einschlug und ihn tötete. Er raffte den Schatz zusammen und ging weiter, aber ein Eichelhäher verfolgte ihn und schrie ohne Unterlass Mörder, Mörder. Er wusste, dass er ins Dorf nicht zurückkehren konnte, ohne nach seinem Bruder gefragt zu werden. Was sollte er den Menschen antworten? (...)

Als die Brüder am Abend nicht ins Dorf kamen, machten sich die Eltern Sorgen um sie und begannen mit ihren Freunden die Suche nach ihnen. Endlich fanden sie den Jüngsten erschlagen in der Hill, die sie und alle nach ihnen fortan "Mordhill" nannten. Sie trägt auch noch in unseren Tagen diese Bezeichnung.' (...)

Die Erzählung des Großvaters endete nicht in der Mordhill. Er führte mich hinter dem Hohen Berg wieder bergab durch einen waldumgebenen  Wiesengrund. Jenseits der Straße, die nach Furth und Heuriet führt, gelangten wir an einen zweiten Brunnen.

'Dies ist der Tränenbrunnen', sagte er , setzte sich und fuhr in seiner Erzählung fort. 'Der mörderische Bruder kam denselben Weg, den wir von der Mordhill gekommen sind. An dieser Stelle überkam ihn Schmerz und Reue über seine ruchlose Tat so sehr, dass er sich auf den Boden setzte und in tiefem Leid zu weinen begann. Weinend ist er die ganze Nacht dagesessen. In seinem Leid um den erschlagenen Bruder hatte er gar nicht gemerkt, dass ein schweres Gewitter über dem Tal niederging. Als er im Morgengrauen die ersten Rauchsäulen über dem Dorf aufsteigen sah, erfasste ihn die Unruhe, er stand auf und sah, dass an der Stelle wohin seine Tränen gefallen waren, eine Quelle aus dem Boden hervorbrach. Überwältigt von ihrem Anblick, wandte er sich nach Westen und stieg weinend die Wuinichhill hinauf. Er wollte über die Nachbargemeinde Furth, jenseits der Kokel, die Landstraße erreichen, die in die weite Welt führt. 

Im Dorf herrschte zur selben Zeit wegen dem Ausbleiben der beiden Brüder große Besorgnis. Kaum war der Tag angebrochen, machten sich alle jungen Männer auf die Suche nach ihnen. Sie teilten sich über das ganze Tal auf und durchstreiften die Felder und Wälder. Zwei von ihnen kamen bis zur Mordhill, an den Platz wo wir vorhin rasteten, wo sie den Toten entdeckten. Neben ihm lag der irdene Topf, der den Schatz enthalten hatte. Nicht weit davon lag eine Silbermünze. Sie zeigte ihnen die Richtung an, die der Mörder nach seiner Tat eingeschlagen hatte. Auf ihr Rufen waren mehrer Männer zu ihnen gestoßen, hatten sich kurz miteinander beraten und die Verfolgung der Spur aufgenommen. Dabei fanden sie den Brunnen, darüber sie sich sehr wunderten, doch den Bruder des Toten konnten sie nicht finden. Sie entdeckten im aufgeweichten Boden der Wuinichhill jedoch die Spur eines einzelnen Mannes. Da wussten sie, wer der Mörder gewesen war, und dass er über seine Tat geweint hatte, so sehr geweint, dass eine Quelle aufbrach. Sie fassten sie noch im selben Frühjahr ein und nannten sie "Tränenbrunnen". Lange Zeit wollte keiner daraus trinken. Dem Fluchtweg, den er weinend gegangen war, gaben sie den Namen "Wuinichhill". In ihrem Hohlweg lagen in gewissen Abständen schwere Lehmklumpen, die er von seinen Füßen abgestreift hatte. Es war, als hätte ihn der Boden in der Heimat zurückhalten wollen, doch hatte er es nicht vermocht.'

Ohne weitere Worte hatten wir uns damals mit Großvater auf den Heimweg gemacht."   


©  A. Türk 2002

 

 

Eine weitere Variante dieser Legende erzählt von Stefan Hermann:

Die Sage vom Silberbrunnen (Salwerbrannen) im Schaindref:

Einst lebten in Groß-Alisch zwei glückliche und unbescholtene Brüder bis eines Tages der eine auf dem Felde im Schaindref einen Silberschatz, in einem Brunnen vergrabenen, fand. (Salwerbrannen)
Er behütete das Geheimnis für sich und erzählte keinem Menschen etwas darüber. Doch mit der Zeit holte er immer öfters Silber aus dem Brunnen. Als sich jedoch sein Haus und Hof ungewöhnlich rasch vergrößerten, erregte er Neid und Missgunst bei den Groß-Alischern und besonders bei seinem eigenen Bruder.
Fortan belauschte und verfolgte ihn dieser. Eines Tages schlich er ihm nach und entdeckte so die Wohlstandsquelle seines Bruders. Von hier an übermannte ihn das Böse. Aus seinem Versteck heraus folgte er diesen als er wieder einmal Silber geholt hatte und auf dem Heimweg war, erschlug ihn in einem Hohlweg (Murdhill) und raubte ihm das Silber.
Als er nun aber die schreckliche Tat, die er begangen hatte, erkannte, überkam ihn im nächsten dunkeln Hohlweg, durch den er gehen musste, (Wünichhill) bittere Reue, so dass er sich hinsetzte und bitter anfing zu weinen. Nur mit Mühe stand er auf und ging mit der immer schwerer drückenden Beute und seinen verwirrten Gedanken bis zu einer nahen Quelle (Träunebrannen-Zäurebrannen). Hier setzte er sich abermals, immer noch weinend und seine Tränen flossen in dieselbe.

Es bleibt ein Rätsel, ob die Hohlwege und die Brunnen ihre Benennungen von anderen Begebenheiten her haben, oder sie mit dieser Sage erhielten.

© Stefan Hermann 2003

    

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